Die zweite Hälfte des Himmels. Theresa Frölichs Parallelwelten


von Johan Hartle

erschienen in "Theresa Frölich – A Semi-Spiritual Thing" hrsg. von Hildegund Amanshauser, Berlin 2008

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Um die Herausforderung zu verstehen, die in den Arbeiten von Theresa Frölich eröffnet wird, muss man theoretisch weit ausholen. Man muss sich mitten in das Niemandsland zwischen Virtualität, Wahn, technischer Rationalität und alltäglicher Lebenspraxis hineinbegeben. Denn ganz alltäglich sind wir Zeitgenossen und Mitbürger der virtuellen Sexmonster, in deren Rolle wir nur im Geheimen schlüpfen.


Indem Theresa Frölich also Bilder und Texte, imaginäre, virtuelle, spirituelle, pornographische Welten miteinander verwebt, verstrickt sie unmerklich zugleich auch uns mit den Phantasmata, die sich im verborgenen Zentrum unserer Kultur verstecken. Sie verweist uns auf eine Komplizenschaft mit all jenen Projektionen, Begierden und Halluzinationen, aus denen wir unentwegt unseren Alltag basteln. 


Das Spektrum der Phantasmata, für die sich Frölich interessiert, reicht weit. Die Mutter Gottes begegnet im Second Life Everhard Cocks vor dem Hintergrund der Matrix eines Gehirns. Dennoch ist der Themensprung nicht so gewaltsam, wie man meinen könnte. Immer geht es um Repräsentationen von Parallelwelten, um die Verschiebung realer Wünsche und Praxen in einen sekundären Raum, aus dem sie – verändert – in die lebenspraktische Tatsachenwelt zurückwirken.


Mit dem Begriff des Phantasmas verbindet sich ein hoher zeitdiagnostischer Anspruch. Phantasmata sind Verschiebungen ins Imaginäre, an denen die symbolische Ordnung signifikant zum Ausdruck kommt und aus denen sie sich auch immer wieder gewinnt. Man könnte sagen: Phantasmata sind Anzeichen der kulturellen Situation. 


Insofern sind Phantasmata, anders gesprochen, aber nicht einfach Irrtümer, auf die zu verzichten wäre. Die radikale Aufklärung musste sich früh eingestehen, dass sich das bildhafte Vorstellungsvermögen nicht durch die reine Verstandeserkenntnis ersetzen lässt und die suggestive Macht der Imagination, die in den Offenbarungsreligionen ihre höchste Autorität fand, eine irreduzible kulturelle Rolle spielt. 


Jenseitsillusionen und Aberglauben können produktiv sein und ganze Lebenswege zusammenhalten. Sie können Energien bündeln und kanalisieren, die sich in der harten Realität der Sachwelt nicht realisieren lassen. Zugleich können sich in ihnen aber auch die Schieflagen einer Kultur verhärten und reproduzieren. 



1. Die lustige Welt der Technogötter


Produktive Illusionen technisch generierter Parallelwelten, an denen entlang sich – manchmal schizoide – Lebensfäden spinnen, sind in all den Gewebestrukturen, die Frölichs Werk durchziehen, präsent. Frölichs Texturen sind eine Re-Narrativierung genau dieser ins Private, Intime und Heimliche zurückgedrängten Fragmente.


Die entscheidende Geste ist deswegen durchaus nicht denunziatorisch, sondern in einem nietzscheanischen Sinn „frö(h)liche Wissenschaft“. Phantasmata sind in ihrer Rekonstruktion keineswegs bedauerlich, sondern vielmehr eine schäumende Vielfalt kultureller Formen und lebensweltlicher Perspektiven. Interessanterweise sind es gerade die profanen Räume technisch generierter Parallelwelten, in denen Frölich sakrale Strukturen nachweist. Die Verschränkung von Techno-Utopien mit Theologie, die Verschiebung von Begierden und Glücksversprechen in virtuelle Parallelwelten, für die sich Frölich interessiert, ist allerdings nicht Frölichs Erfindung. Sie ist eine kulturgeschichtliche Tatsache. Kinematographisch ist sie nachdrücklich gestaltet worden. Ob in Steven Lisbergs Tron, David Cronenbergs Videodrome, der Matrix-Serie der Gebrüder Wachowsky oder in Steven Spielbergs Minority Report – immer wurde den Realitätseffekten technisch generierter Parallelwelten durch eine Auferstehung im Jenseits oder ein Leibhaftigwerden im Diesseits, durch Prophetie und Messianismus begegnet. In Erzählungen von virtuellen Räumen hatten zumeist christomorphe Heldenfiguren zu jeder Zeit ihren Platz. So war der spirituelle und religiöse Charakter des Virtuellen für den, der sehen wollte, jederzeit offenbar.


Für Frölich wird der gesamte virtuelle Raum zu einem spirituellen Erlebnis, zu einer Wirklichkeitssphäre, die man strukturell als Religion kennzeichnen könnte. Second Life, das zu Frölichs wichtigstem Bildarchiv gehört, verdiesseitigt das Netz – sprichwörtlich schon vor dem Tod –, das zweite Leben. Die Playstation 2 warb zu ihrer Zeit mit dem Beinamen „the third space“, mit dem neben einer irdischen und einer kosmischen Räumlichkeit auf eine virtuelle angespielt wurde. 


Mit medialen Parallelräumen hat der religiöse Himmel neue Konkurrenten bekommen, in denen sinnhaft aufgeladene, heroische und verheißungsvolle Projektionen nachhaltig Nahrung bekommen. Theologische Sinnstrukturen reproduzieren sich auf diese Weise fortwährend auf sekundären Schauplätzen. 


Frölichs Interesse an diesen Verquickungen ist biographisch nicht ganz zufällig – zu ihrer Ausbildung zählen einige Semester Theologie. Allerdings tritt an die Stelle des Deutungsmonopols der christlichen Kirche in Frölichs Werk ein Dialog der spirituellen Schichten diverser Kulturen. Insbesondere die sub- und populärkulturellen Praxen, deren kulturelle Hybridformen für Frölich als ein ästhetisch-gehaltvolles Wuchern produktiv gemacht werden, treten als theologoumena ins Licht. Man mag den Synkretismus und die Absurdität selbst gebastelter Privatreligionen mit traditionalistischem oder bildungsbürgerlichem Spott versehen. Frölich sieht ihr mit einer pluralistischen Neugier entgegen. 



2. Die zweite Hälfte des Himmels


Zu den Besonderheiten der technischen Parallelwelten gegenüber klassisch religiöser Jenseitigkeit zählt das Paradox, dass sich die semi-religiösen Glücksversprechen im Zuge allgemeiner Virtualisierung sukzessive auf den Körper richten. Die Auferstehung des Fleisches im Second Life wird in einem technisch halbierten Sinne konkret. 


Auf diese Weise wirken die Glücksmodelle des jenseitigen Verheißungshorizonts durchaus auf den lebenspraktischen Raum zurück. Allgemein weist das auf den kunsttheoretischen Gehalt der Arbeiten von Theresa Frölich hin. Wie jede Kunst eröffnet auch ihre Arbeit die Auseinandersetzung um die Verteilung und Bestimmung diskursiver Güter. In ihrem Fall stellt sich diese Frage in folgender Weise: Wo beginnen die öffentlichen Konsequenzen privater und intimer Medienpraxen?  


Wo eine Geschlechtlichkeit mit „boobs“, „pussies“ und „everhard cocks“ kosten- und risikofrei zu haben ist, da realisiert sich eine sexuelle Entsublimierung, die den romantischen Umweg auch im Diesseits erschwert. Vielfältig konstruieren die virtuellen Identitäten mittelbar auch die realen. Viele hundert Stunden lang die virtuelle Pornopeitsche zu schwingen, kann das Verhältnis zum eigenen und zu fremden Körpern nicht unverändert lassen. 


Interessanterweise richtet sich die Verheißung des Virtuellen zentral auf den (pornographisch und biologisch reduzierten) geschlechtlichen Körper. Frölich rekonstruiert exemplarisch einen Diskurs, in dem Frauenkörper als der Inbegriff des Realen fungieren, während sie sich zugleich einerseits hinter Computergehäusen und andererseits in christlicher Sakralisierung entziehen. Insofern es hier durchaus mit männlichen Projektionen zugeht, stellt Frölich die Frage danach, inwieweit Parallelwelten als ein symbolisches Verteilungsproblem, als ein Konfliktfeld thematisiert werden können.


Die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai, die einmal mit Clara Zetkin den internationalen Frauentag ins Leben rief, sprach davon, dass Frauen die „Hälfte des Himmels“ seien, es nun aber darauf ankomme, diese Hälfte auf Erden einzufordern. Spätestens seit man ganze Wochenenden im Second Life verbringen kann, sind Himmel und Erde nicht mehr sauber von einander getrennt. Und auch der virtuell kokretisierte Himmel ist nicht so gerecht geordnet, wie Kollontai (die es als Marxistin besser wusste) suggeriert. 


Die himmlischen Männerphantasien von „everhard cocks“ und „oversized boobs“ sind jedenfalls nicht weniger auf ihren gesellschaftlichen Entstehungsort zu befragen, als es patriarchalische Gotteswelten von jeher waren. Die Thematisierung von elektronischen und religiösen Himmelswelten eröffnet insofern eine Reihe von feministischen Fragen. Lässt die webbasierte Codierung des geschlechtlichen Körpers feministischen Optimismus zu? Oder verlängern die pornographische Verhärtung des biologischen Geschlechts und die elektronische Versachlichung von Intimbeziehungen letztlich einen Sexismus, der dem Medium selbst innewohnt? Welche Hälften des Himmels gilt es auf die Erde zu holen und welche lieber nicht?



3. Artworlds


Die Frage nach der Hälfte des virtuellen Himmels korrespondiert der kunstimmanenten Frage nach der Hälfte der ästhetischen Erfahrungswelten. Denn nicht nur mit Himmel und Erde, auch mit der Kunst verbindet sich der Anspruch, universell zu sein. Auch in ihr gilt es jene Hälfte einzulösen, die auf Himmel und Erde versprochen wurde.


Die Cyberfeministin Sadie Plant hat in ihrem Buch über „Nullen und Einsen“ das World Wide Web als einen Raum beschrieben, der auf entscheidende Weise die Hauptmerkmale traditionell weiblicher Arbeit enthält. Die Metapher des Webens selbst, aber auch die affektiven und kommunikativen Aspekte sozialer Reproduktion bestimmen die webbasierte Kommunikation und erlauben Plant den optimistischen Schluss, dass das Web letztlich eine Umwertung von Geschlechtercodierungen bedingt; sie macht es zum Hoffnungsträger feministischer Politik. 


In der zeitgenössischen Kunst ist die Aneignung von Handarbeiten (von Rosemarie Trockel bis Lucy Orta) zu einem Verfahren feministischer Kunst geworden. Gewebte, genähte, gestrickte und gehäkelte Kunst verband sich mit dem Bemühen, klassisch weibliche Arbeit, Haus- und Handarbeit ästhetisch aufzuwerten. Frölichs konzeptuelle Erweiterung des ästhetischen Handlungsraumes – die Organisation von Ausstellungspraxen und öffentlichen Diskursen – ihr gesamtes Networking bewegt sich ganz in diesem Schema. 


Vordergründig betrachtet ist diese Verknüpfung der diskursive Knotenpunkt, an dem die Arbeiten von Theresa Frölich entstehen. Er gewinnt eine besondere Bedeutung in dem Augenblick, in dem virtuelle Räume in Textilarbeit und in Figuren sensibler Frauenporträts in den Realraum zurückübersetzt werden.


Aber Frölichs Mediengebrauch ist nicht mit dem Verweis auf eine digitalisierte Textilkunst erklärt. Sie nutzt Sprache als Medium visueller Kunst und das virtuelle Bild- und Spracharchiv als Fundus für diverse objets trouvés. Ihr Verfahren ist somit ebenso von den Leitlinien klassischer Konzeptkunst bestimmt wie von den Verfahrensweisen und Frageperspektiven feministischer Textil- oder Medienkunst.


Ebenso wie die Medien überschreiten auch die thematischen Zusammenhänge den im engeren Sinne feministischen Impuls. Frölichs ästhetisches Interesse an der virtuellen Welt und ihren Formen ist letztlich nicht nur eine Untersuchung geschlechtlicher Codes in virtuellen Räumen, sondern zugleich eine vielschichtige Erkundung des Reichs der Kunst selbst. Wie vermutlich jede Kunst trifft ihre Arbeit mehrschichtige Aussagen darüber, was Kunst sei.


Der Name „second life“ enthält alle Andeutungen, die dieses Interesse definieren. Denn beide Welten, the Artworld wie das buchstäbliche Second Life eröffnen eine Parallelwelt, in der Dinge möglich sind, die es in der wirklichen Welt körperlicher Präsenz nicht sind. 


In sie wirken Projektionen und Rangkämpfe hinein, die die Frage danach stellen, wem sie eigentlich gehören. Wessen Himmel ist der Himmel, wessen Kunst ist die Kunst?